Die Sprache der Farben. Kolumne in luxlumina Schweitzer Architektur & Lichtdesign Magazin Nr. 16 2016.
Von Axel Buether
Farbe wird zum Entwurfswerkzeug, wenn sich Gestalter, Planer und Entscheidungsträger von konventionellen Bewertungen wie „schön“ und „hässlich“ lösen und sich stattdessen mit den kommunikativen Funktionen der Farbwahrnehmung und Farbgestaltung auseinandersetzen.
Farbe im Entwurfsprozess
Das richtige Maß der Farbgestaltung, die immer eine farbliche Codierung ist, muss im Entwurfsprozess stets neu im Kontext der Anwendungssituation und Aufgabe ausgehandelt werden, damit Orientierung erhalten erzeugt, bleibt oder verbessert wird. Physikalische, chemische, neurobiologische, psychologische, philosophische, semiotische, kulturhistorische, soziologische und anwendungspraktische Erkenntnisse können dabei Hilfestellung leisten. Dennoch gibt es keine Berechnungsmethode, kein Beschreibungsmodell und kein Planungsverfahren, mit denen sich die vielschichtigen Wirkungen von Farbe im Raum vollständig erfassen lassen. Farbe wird zum Entwurfswerkzeug, wenn sich Gestalter, Planer und Entscheidungsträger von konventionellen Bewertungen wie „schön“ und „hässlich“ lösen und sich stattdessen mit den kommunikativen Funktionen der Farbwahrnehmung und Farbgestaltung auseinandersetzen.
Die Funktion der Farben
Farben prägen das klimatisch und topografisch differenzierte Erscheinungsbild des Naturraums. Sie ermöglichen diversen Lebensformen, artspezifische Formen der Orientierung und Kommunikation, sie bilden Identität. Diese biologischen Funktionen prägen nicht nur den Naturraum, sondern auch die Ästhetik des Kulturraums, der die Formen der visuellen Kommunikation des Menschen zur Anschauung bringt. Das Ausdrucks– und Vermittlungspotenzial der Farbe entfaltet sich mit der kulturellen Entwicklung von Individuen und Gesellschaften, findet Ausdruck in allen Lebensäußerungen, in Worten, Bildern, Objekten, Räumen und Performances. Für die ästhetische Gestaltung der Umwelt ist Farbe das wichtigste Entwurfswerkzeug, da sich die abstrakten Liniengefüge der Planungsphase in den atmosphärisch und stofflich geprägten Erscheinungsformen gebauter Räume konkretisieren. Die gesamte materielle Kultur ist nach den biologischen Prinzipien der visuellen Wahrnehmung gestaltet, da der Mensch den Artefakten ihren Verwendungszweck ansehen muss, damit er sich daran orientieren, diese in Gebrauch nehmen oder sich vor ihnen schützen kann.
Farben bilden Orientierung
Eine unverzichtbare Funktion der Farbe ist die Orientierung, da die räumliche Auflösung aller materiellen Strukturen mit jeder differenzierbaren Helligkeitsnuance und jedem wahrnehmbaren Farbton exponentiell zunimmt. Dieses Prinzip lässt sich an den Pixelbelegungen eines digitalen Bilds nachvollziehen. Ganze Bildebenen verschwinden oder tauchen auf, verschieben sich oder gehen neue Beziehungen ein, wenn Farbe und Helligkeit manipuliert werden. Die Trennung des Farbspektrums in Bunt– und Unbuntfarben folgt der Arbeitsweise des visuellen Systems, das die Buntheit und Helligkeit von Licht– und Körperfarben getrennt verarbeitet. Durch Übung der Farbwahrnehmung lassen sich die unbunten Anteile eines Farbtons erkennen und einer Grautonstufe im Spektrum zwischen Schwarz und Weiß zuordnen. Ebenso lassen sich die bunten Anteile reinen Farben oder Farbmischungen zuordnen, deren Systematik die Verarbeitung visueller Signale im Gehirn widerspiegelt. Durch die Reduktion des Spektrums auf die Unbuntfarben verschiebt sich die Wahrnehmung der Umwelt, da einige Informationsebenen wie Licht und Schatten stärker hervortreten, während andere vollständig verschwinden. Durch den Verzicht auf Buntfarben steigert sich die Wahrnehmung der Kanten und Volumen von Gebäuden und Objekten in dem Maß, wie die Oberfläche an Bedeutung verliert. Längen, Breiten, Tiefen, Proportionen und Fügungen treten durch die Betonung der Umgrenzungslinien in den Vordergrund der Wahrnehmung. Informationen über die Tageszeit, Stimmung, Atmosphäre, Materialität und Haptik verlieren durch den Abstraktionsvorgang der Buntfarbigkeit an Bedeutung und werden zum Hintergrund. Farbe, die auf diese Weise ihre Aussage verliert und nur noch als Füllmaterial linearer Strukturen eingesetzt wird, gerät leicht zur Dekoration. Das Maß der Buntheit verschiebt den Fokus der Objekt– und Raumwahrnehmung, weshalb im Gestaltungsprozess von Architektur und Design Farben stets zweckgerichtet eingesetzt werden sollten. Zu viele Farben, oder genauer: farblich codierte Informationen können ebenso desorientierend wirken wie zu wenige. Farbgestaltung ist visuelle Kommunikation.
Farben bilden Identität
Mit der Gestaltung des Kulturraums grenzt sich die menschliche Spezies eindeutig vom Erscheinungsbild des Naturraums ab. Die Farbigkeit der Städte, Bauten, Innenräume, Gebrauchsgegenstände und Kunstwerke kündet von neuen Funktionen, die das Zusammenleben von modernen Gesellschaften prägen. Durch die kulturelle Evolution des Menschen haben sich viele Anforderungen an die farbliche Codierung der Umwelt gewandelt. Die Bewertung von Geschmack und Nährwert der Nahrung, von Form und Haptik der Oberflächen, von Atmosphäre und Geborgenheit der Lebensräume erfolgt nach wie vor auf der Grundlage ihres farblich codierten Erscheinungsbildes. Hinzugekommen sind die kulturell codierten Oberflächenfarben unzähliger Produkte, Verpackungen, Accessoires, Interieurs und Fassaden, welche die evolutionären Wahrnehmungs– und Orientierungsmechanismen bis heute maßgeblich verändert haben. Die farbliche Gestaltung des Kulturraums erfolgte bis zur Bildung moderner Gesellschaften weitgehend durch die Verwendung und Anwendung regionaler Ressourcen und Technologien. Importe von Baumaterialien, Werk– und Farbstoffen waren extrem aufwendig und konnten nur bei bedeutenden Bauvorhaben, Produkten und Kunstwerken eingesetzt werden. Die Farbigkeit des historisch gewachsenen Kulturraums spiegelt ökonomische Prozesse wider und dient dem biologischen Zweck der Repräsentation, die das Sozialverhalten innerhalb einer Spezies steuert. Farb– und Formcodes ermöglichen die gesellschaftliche Differenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit, Armut und Reichtum, Religiosität und Profanität, Ländlichkeit und Urbanität. Im Verlauf der Kulturgeschichte hat sich hierdurch ein regional differenziertes weltumspannendes Farbcodierungssystem gebildet, über das wir die Identität von Individuen und Gesellschaften wahrnehmen, gestalten und vermitteln. Mit der Industrialisierung vollzog sich ein tief greifender Wandel der Produktions-, Transport– und Kommunikationsbedingungen. Die globale Verwendung moderner Baustoffe und Technologien bewirkt die Vereinheitlichung des Erscheinungsbilds aller Siedungsräume der Erde, die große Unterschiede zwischen Armut und Reichtum offenbaren, während kulturelle Merkmale verschwinden. Der hierdurch bewirkte Identitätsverlust fordert eine Neuorientierung, die gestalterisch planerische Berufe und politische Entscheidungsträger vor große Herausforderungen stellt und verantwortungsvolles Handeln fordert.
Farben bilden Raum und erregen Aufmerksamkeit
Die Blickerfassung belegt die Notwendigkeit der Komposition aller bedeutsamen Einzelelemente im Gesichtsfeld zu einem verständlich wahrnehmbaren Sinnganzen. Da immer nur zwei Grad des Blickfelds fixiert und bewusst gesehen werden können, bildet der gesamte Rest in diesem Moment den Hintergrund der Wahrnehmungssituation. Dieser ist nicht nur atmosphärisch bedeutsam, sondern leitet den Blick zum nächsten bedeutsamen Ziel im Blickfeld. Oft erfolgt keine Fixierung der Elemente, wofür eine Verweildauer von etwa einer Sekunde notwendig ist, sondern nur gestreifter Blick, weshalb viele Elemente nicht bewusst wahrgenommen werden, obgleich sie vom impliziten Gedächtnis ausgewertet sind. Die periphere Wahrnehmung genügt, um wichtige innen– und außenräumliche Bezugselemente wie Himmel, Topografie, Wälder oder Gebäude oder Wand, Decke, Boden, Türen oder Bewegungskorridore zu erkennen. Einzelformen verschmelzen zu größeren Formzusammenhängen, wenn keine ausreichenden farblichen Differenzierungen vorhanden sind, da die peripheren Regionen der Netzhaut kaum Details erkennen. Aus diesem Grund kann der Mensch seinen Weg durch Natur– und Stadträume finden, ohne viele Elemente zu erkennen oder sich zu erinnern. Farbe kann Dinge in den Vordergrund der Wahrnehmung rücken oder im Hintergrund belassen. Sie hat damit entscheidenden Einfluss auf die Erinnerungskultur oder die visuelle Bildung, auf alle visuell codierten Informationen, die Menschen von Bildern, Objekten und Räumen im Gedächtnis behalten. Farbe erzeugt Aufmerksamkeit und Interesse an der Wahrnehmungssituation, ein Effekt, der sich bis zur Faszination steigern lässt. Wer sich von den Farben des Natur– oder Kulturraums begeistern lässt und staunend davor innehält, nimmt die damit verbundenen Orte, Inhalte und Ereignisse intensiver, zusammenhängender und detailreicher wahr und behält diese zudem nachhaltiger in Erinnerung.
Farbensprache im Kulturraum
Der kulturelle Evolutionsprozess der Farbwahrnehmung und Farbensprache lässt sich an der Ästhetik und Funktion unserer Medien und Kommunikationstechnologien ablesen. Bilder, Objekte, gebaute Räume und Performances wie auch die technologischen Entwicklungen der Informations-, Lern-, Planungs-, Navigations– und Kommunikationssysteme moderner Gesellschaften veranschaulichen den qualitativen Leistungssprung bei der Verarbeitung von Farbcodes im Gehirn. Die Ästhetik der soziokulturell gestalteten Umwelt dient der Kommunikation von Gedanken, Gefühlen und Handlungsmöglichkeiten. Der Begriff Schönheit hingegen bringt unser Werturteil zum Ausdruck, das von rationalen und emotionalen sowie gesellschaftlichen und individuellen Faktoren geprägt wird. Das Erscheinungsbild der Siedlungsräume, Gebäude und Infrastrukturen spiegelt die Funktion von Gesellschaft auf anschauliche Weise wider, was einen entscheidenden Beitrag zur kulturellen Evolution der menschlichen Spezies darstellt. Für die visuelle Wahrnehmung funktioniert der Kulturraum wie ein „anschaulicher Gedächtnisspeicher“, dessen formale Strukturen und inhaltliche Bedeutungen einen generationsübergreifenden Wissenstransfer gewährleisten. Stadträume sind unerschöpfliche Lernräume. Die Kultivierung der Farbensprache durch die Farbcodes von Kleidung, Produkten, Interieurs, Gebäuden und Städten schafft Identität und bietet Orientierung in einer immer komplexeren Welt. Durch den konventionellen Gebrauch von Farbcodes lassen sich Lebensalter, Geschlecht, Kulturzugehörigkeit, Sozialisierung von Menschen wie auch Epoche, Quartierbildung, Regionalisierung von Orten am Erscheinungsbild ablesen. Die Lesbarkeit und die Deutung von Inhalt und Funktion werden erschwert, verfälscht oder verhindert, wenn sich die Farbgestaltung allein auf formale Wirkungen fokussiert. Die Eigenfarbe von Werkstoffen wie auch die Farben von Beschichtungen und Bekleidungen verweisen auf die Materialsubstanz, den Herstellungsprozess und den Verwendungszweck. Die Ästhetik einer Farbgestaltung dient daher primär der Schaffung räumlicher Orientierung, der Kennzeichnung von Inhalt und Gebrauchszweck einer Sache, der Erzeugung von Identität und Ermöglichung von Repräsentation.
Farben als Entwurfswerkzeug
Parallel zur Entwicklung der Moderne hat sich eine aus vielen Gründen problematische Trennung des gestalterischen Berufsfeldes in einen planerisch-konzeptionellen und einen handwerklich-ausführenden Teil durchgesetzt. Daher können sich heute nur noch wenige Architekten und Designer bei ihrer Entwurfsarbeit auf eigene handwerkliche Erfahrungen stützen, was für die visuelle Gestaltung der materiellen Kultur unerlässlich ist. Farbe wird jedoch erst dann zu einem modernen Entwurfswerkzeug, wenn Planer über umfassende theoretische Kenntnisse verfügen, die sie vor dem Hintergrund eigener praktischer Erfahrungen anwenden können. Farbe bildete als Medium visueller Gestaltung neben Form und Schrift einen integralen Bestandteil visueller Kommunikation. Das semiotisch fundierte Wissensgebiet hat sich bis heute nur im Bereich der visuellen Gestaltung von Bildmedien durchgesetzt, wovon zahlreiche anwendungspraktische Tätigkeiten profitieren. Professionelle Bildproduzenten aus den Bereichen Grafik, Illustration, Druck, Internet und Film kennen die formalen und inhaltlichen Wirkungen der Farben und können diese auf Grundlage anwendungspraktischer Kenntnisse zielgerichtet und effizient zur Vermittlung von Botschaften einsetzen. In Architektur und Stadtplanung hingegen erfolgte eine Verwissenschaftlichung der Ausbildung im Bereich der Technik, weshalb sich der Fächerkanon bis heute primär auf ingenieurwissenschaftliche Themen ausrichtet. Folgerichtig treten die kommunikativen Aspekte des gebauten Raums gegenwärtig häufig in den Hintergrund. Planer setzen Farben und Licht in der Regel nicht strategisch zur anschaulichen Vermittlung inhaltlicher Bedeutungen und funktionaler Gebrauchseigenschaften gebauter Räume ein, da ihnen auf Grund von Lücken im Curriculum vieler Bildungsinstitutionen Wissen und Erfahrungen fehlen. Wie die technologischen müssen auch die vielschichtigen kommunikativen Wirkungen der Farbe im gesamten Entwurfs-, Planungs– und Umsetzungsprozess mitgedacht werden. Dafür muss Farbe zuerst einmal eine ganzheitliche Wahrnehmung ihrer Funktion als linien-, flächen-, körper– und raumbildendes Element, als emotionalisierendes Kommunikationsmedium, als identifikationsbildendes Orientierungssystem, als visuell-haptische Oberflächenqualität wie auch als atmosphärische Lichtqualität erfahren. Die kommunikationswissenschaftliche, kulturhistorische, naturwissenschaftliche, technologische, ästhetische und anwendungspraktische Auseinandersetzung mit Farbe sollte daher in allen Bildungseinrichtungen von Handwerk, Technik, Design, Kunst und Architektur erfolgen. Niemand kann sich der Auseinandersetzung mit Farbe entziehen, denn sinngemäß gilt das Axiom von Paul Watzlawick auch für das Medium der visuellen Gestaltung und Kommunikation: Man kann nicht nicht farbig gestalten.
Dieser Text enthält Auszüge aus dem Beitrag „Die Funktion der Farbe – Einführung in die Farbtheorie und Begriffsklärung“, von Axel Buether, FARBE, DETAIL PRAXIS 2014
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