Farbe, Licht und Atmosphäre. Kolumne in luxlumina Schweitzer Architektur & Lichtdesign Magazin Nr. 15 2016.
Von Axel Buether
Durch die Beherrschung industriell hergestellter Lichtquellen erhalten wir große Macht über die Atmosphäre von Räumen, die wir gleich einer Bühne in Szene setzen können. Verzichten wir hingegen in der Entwurfs- und Planungsphase auf die Choreografie des Lichts und der Farben, nehmen wir erhebliche Einschränkungen der Aufenthaltsqualität, Nutzung sowie Wertverluste in Kauf.
Zur Bedeutung von Atmosphären
Auftakt für diese Kolumne ist eine Frage der Redaktion von luxlumina, die von mir wissen wollte, was ich vom neuen CRI Standard zur Farbwiedergabe-Bestimmung TM30-15 halte. Wie das mit einfachen Fragen manchmal so ist, gibt es hierauf keine schnelle Antwort, da Bewertungen wie „sinnvoll“ oder „überfällig“ für den Leser nicht verständnisbildend sind. Meine Antwort darauf findet sich daher auch erst am Ende dieses Beitrags. Jede technische Frage nach der Qualität von Licht führt uns unweigerlich zu einem wahrnehmungspsychologischen Problem, das sich durch die Angabe physikalischer Größen und ihrer Erklärungen nicht beantworten lässt. Der altgriechische Begriff „téchne“ wurzelt in der Suche nach Regeln und Methoden. Also worüber wollen wir durch Technik Kontrolle erhalten und welchem Ziel gelten unsere Methoden? Das gemeinsame Ziel ist die Gestaltung von Atmosphären, weshalb es für Techniker wie Entwerfer gleichermaßen von Bedeutung ist, die Komplexität dieses Wahrnehmungsphänomens zu verstehen.
Licht und Farbe sind Naturphänomene, deren Wirkungen man nicht erklären kann, sondern selbst erleben muss. Farbe und Licht sind zwei Seiten des gleichen Wahrnehmungsphänomens, da Farbe leuchtet und Licht färbt. Die Lichtfarben der Sonne erzeugen ein atmosphärisches Leuchten, aus dem die Körperfarben der materiellen Welt in ihrer wiederkennbaren Gestalt hervorgehen. Ohne Licht gibt es keine Farben, keinen Himmel, keinen Horizont, keine ausgedehnten Landschaften, keine Figurationen. Wir würden eintauchen in die Welt der Blinden, in der Farbe und Licht leere Worte sind.
Unser Staunen vor den unendlich mannigfaltigen Erscheinungsformen der Natur, in deren Angesicht wir die Sinnhaftigkeit unseres Daseins spüren, zeigt sich nirgendwo so deutlich wie im Erlebnis von Atmosphären. Atemberaubende farbenprächtige Naturschauspiele wie glühendrote, magentafarbene, magisch violette Sonnenuntergänge, begrenzt von einem leuchtend cyanblauen oder düster graublauen Himmel prägen sich tief in unser Farbgedächtnis ein. Wer kann sich der Faszination azurblauer, graugrüner oder anthrazitbrauner Wasserflächen entziehen, einem schwingenden Wellenteppich funkelnder Lichtreflexe, der am weiten Horizont von atmosphärisch leuchtenden Himmelblau, Wolkenweiß oder Gewittergrautönen begrenzt wird? Gebannt blicken wir über die Weite unserer Natur– und Kulturlandschaften, die pflanzlich grünen, blütenbunten oder ährengelben Farben von Wiesen, Wäldern und Feldern, die erdig braunen, sandig gelben oder steinig grauen Farben von Wüsten, Steppen und Savannen, wie die schlammgrauen, algengrünen oder blaugrünen Farben von Sümpfen, Flüssen und Seen.
Die harmonische Farbpalette der Umwelt spiegelt sich in der Natur unseres visuellen Wahrnehmungssystems, das sich durch Wechselwirkungen nach evolutionären Prinzipien geformt hat. Keine Farbe in der Natur ist überflüssig oder wirkt störend, da wir nur den Teil des Energiespektrums der Sonne wahrnehmen, der für unser Überleben nützlich ist. Lebewesen nehmen sehr verschiedene Farbspektren und damit völlig unterschiedliche Lebenswelten wahr. Fledermäuse sehen fast gar nichts, da sie als nachtaktive Lebewesen mit hervorragendem Gehör von einem dreidimensionalen Klangprofil der Umwelt profitieren. Viele Vogel– und Fischarten hingegen leben in ihrer ganz eigenen Welt, die sich ins ultraviolette Spektrum ausdehnt und uns verborgen bleibt. Atmosphären sind keine objektive Realität, sondern Kennzeichen unseres Habitats, das sich in jeder Weltregion durch den unterschiedlichen Sonnenstand spezifisch ausformt.
Über die Wirkung von Atmosphären
Mit der fortschreitenden Überformung der Umwelt, der Ausdehnung unserer Siedlungsräume, der Felder, des Weidelandes und der Infrastruktursysteme, haben wir neue Atmosphären geschaffen. Ob wir die künstlich geformten Atmosphären moderner Siedlungen, Industriezonen und Verkehrsnetze schön oder hässlich empfinden, ist nicht die entscheidende Frage. Unser Wahrnehmungssystem wird sich mit der Zeit allen ästhetischen Herausforderungen des Kulturraums anpassen, soweit dieser tatsächlich auch unsere Lebensqualität erhöht. Wichtig ist daher allein die Frage, wie wir durch neue Baumaterialien, Bautechniken und Gebäudetechnologien Atmosphären gestalten können, in denen wir gerne leben und arbeiten, in denen wir uns zeitlebens wohl fühlen, die unseren Gemeinschaftssinn fördern sowie Körper und Geist gesund erhalten. Doch wie kommt es zu diesem maßgeblichen Einfluss von Atmosphären auf unseren Körperzustand?
Atmosphären sind das Werk der Sonne, deren zeitlich und räumlich wechselnde energetische Strahlungsleistung das Erscheinungsbild aller Klimazonen, Landschaften und Kulturregionen der Welt szenisch ins Bild setzt. Ohne die Energie der Sonne, die wir in Form von Licht und Farbe wahrnehmen, gäbe es kein Leben auf der Erde. Wir spüren den Einfluss der Sonne auf unseren Körperzustand in jeder Lebenssituation. Atmosphären wirken unwillkürlich auf unseren Körperzustand, auf Stoffwechselprozesse, Verdauung, Herzfrequenz, Atmung, Sexualtrieb, Appetit, Aufmerksamkeit, Wachsamkeit, Unternehmungslust, Handlungsbereitschaft und Wohlbefinden. Wir müssen unsere Lebensräume daher gar nicht erst ausprobieren, sondern nehmen unmittelbar wahr, wenn wir uns in einer spezifischen Atmosphäre wohlfühlen, ob wir gern und effizient darin arbeiten oder gut darin leben können. Diese intuitiven Bewertungen sind von großer Bedeutung für den Prozess der Raumgestaltung, denn spontan erzeugte Ablehnung lässt sich auch durch rationale Argumente kaum noch überwinden, wohingegen spontane Begeisterung über viele Probleme hinweghelfen kann. Wir spüren die Macht der Atmosphäre unwillkürlich an jedem Aufenthaltsort, am Arbeitsplatz, bei der Ankunft in Hotels und Ferienanlagen, an Bahnhöfen und Flughäfen, in Kitas, Schulen und Universitäten, in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Seniorenresidenzen. Die Wahrnehmung von Atmosphären prägt unser Werturteil.
Wir leben in einer atmosphärischen Welt aus Farbe und Licht, die sich mit jedem Sonnenaufgang immer wieder neu formt und sich mit Einbruch der Nacht stets wieder in der Dunkelheit auflöst. Unser gesamter Körper hat sich im Verlauf der Evolution auf den Wechsel der Atmosphären eingestellt, weshalb das intensive Farbspektrum des Tageslichts über die Ausschüttung der Weckhormone ACTH und Cortisol unseren Organismus aktiviert sowie leistungsfähig und konzentriert hält. Trübungen der Atmosphäre bewirken die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin, was zu einer weitgehenden Reduktion aller Stoffwechselaktivitäten führt und die lebenswichtigen Ruhephasen für die Erholung und Regenration unserer geistigen und körperlichen Ressourcen einleitet. Arbeiten wir dennoch bei schlechten Lichtbedingungen, hat das negative Konsequenzen auf unseren Körperzustand. Atmosphären wirken nicht nur faszinierend schön, sondern haben darüber hinaus direkte Auswirkungen auf körperliche und geistige Faktoren, wie Motivation, Denkvermögen, Kreativität und Arbeitsleistung, Gesundheit, Wohlgefühl und Lebensqualität.
Gestaltung von Atmosphären
Atmosphären sind das mächtigste Werkzeug der Raumgestaltung, vom Maßstab der Städte bis zu unseren Arbeitsumgebungen und privaten Wohnbereichen. Sobald wir Räume planen und bauen, gestalten wir gleichsam Atmosphären. Wir arbeiten malerisch mit Licht und Dunkel, wenn wir die entworfenen Räume dem Licht zuwenden, sie vom Licht abwenden, das Licht durch Öffnungen in den Innenraum hereinholen oder es durch Wände und Decken davon ausgrenzen.
Helle Materialien und Oberflächen spiegeln das warmweiße Spektrum des Sonnenlichts, das uns buntfarbig leuchtend erscheint, wo Teile des Spektrums durch Absorption in Wärme gewandelt werden. Dunkle Materialien absorbieren den sichtbaren Teil des einfallenden Lichts hingegen stark oder vollständig, wodurch sich auch der Anteil des ambienten Lichts reduziert. Sinkt der Reflexionsanteil der dem Licht zugewandten Flächen, wirken die Oberflächen aller anderen Bauteile gleichermaßen kontrastärmer, strukturloser, dunkler und ungesättigter. Die gesamte Raumatmosphäre trübt sich ein, womit starke Veränderungen der Materialfarbigkeit bzw. Architekturfarbigkeit einhergehen. Mit zunehmender Trübung verringert sich die Haptik und Wertigkeit der verwendeten Materialoberflächen und Objekte. Zugleich wird die Orientierung im Raum erschwert. Den negativen Effekten der Trübung können wir durch Kunstlicht entgegenwirken, in dem wir Lichtfarben methodisch planen und gezielt einsetzen. Über die atmosphärische Qualität von Außen– und Innenräumen entscheidet das Wahrnehmungsganze. Das beginnt mit der perspektivisch geplanten Formung, Setzung, Fügung und Komposition aller Bauteile zueinander und zum gesamten Raum, führt über die haptische Struktur sämtlicher Farboberflächen und endet bei der Auswahl und Anordnung aller Lichtquellen, den Festlegungen zur Lichtfarbe und Beleuchtungsstärke sowie der Setzung von ambienten, diffusen und spekularen Akzenten.
Kunstlicht ist ein hocheffektives Werkzeug zur Gestaltung von Atmosphären in Innen– wie Außenräumen, wenn es nach Einbruch der Dunkelheit oder in tageslichtarmen wie dunklen Räumen die Atmosphäre herstellt. Darüber hinaus kann es viele zeitliche und wetterbedingte Schwankungen im Tageslicht kompensieren, was zur Kontrolle der Raumatmosphäre und damit des Wohlgefühls und der Nutzbarkeit beiträgt. Durch die Beherrschung industriell hergestellter Lichtquellen erhalten wir große Macht über die Atmosphäre von Räumen, die wir gleich einer Bühne in Szene setzen können. Verzichten wir hingegen in der Entwurfs– und Planungsphase auf die Choreografie des Lichts und der Farben, nehmen wir erhebliche Einschränkungen der Aufenthaltsqualität, Nutzung sowie Wertverluste in Kauf. Daher sollten wir die atmosphärischen Wirkungen von Licht und Farben nicht dem Zufall überlassen, sondern sie von Anfang an in alle Planungs– und Entscheidungsprozesse einbeziehen.
Wenn wir heute neue oder bewährte technische Standards und Produkte auswählen, sollten wir bedenken, dass alle Technologien nur Mittel zur Sicherung und Erhöhung unserer Lebensqualität sind. Die eingangs gestellte Frage nach der Sinnfälligkeit des neuen IES Standards zur Farbwiedergabe-Bestimmung TM-30–15 lässt sich in diesem Sinne ganz einfach beantworten. Der neue Standard berücksichtigt 99 über den gesamten Farbraum verteilte Referenzfarben (CES = Colour Evaluation Samples), was eine deutlich bessere Beurteilung der Farbwiedergabe und damit Kontrolle der Atmosphäre sichert. Kleinste Abweichungen vom natürlichen Spektrum des Sonnenlichts können große Effekte auf die Raumatmosphäre haben. Viele energieeffiziente Leuchtmittel zeigen starke Abweichungen in der Farbwiedergabe, was ungewollte Effekte auf die Raumatmosphäre hat. Fehlen Teile des warmen Spektrums, wirkt die Atmosphäre unnatürlich und deutlich kühler. Alle Oberflächenfarben wirken verfälscht und verlieren ihre angenehmen haptischen Eigenschaften, Farbkonzepte sind nicht mehr erkennbar, Kunstwerke verlieren ihre Authentizität. Gesichter erscheinen uns befremdlich und abweisend, was wiederum starken Einfluss auf soziale Prozesse hat. Warum Farben und Licht auf uns wirken und wie wir hierüber kommunizieren, erfahren Sie im nächsten Beitrag, in dem es um die „Sprache der Farben“ gehen wird.
Dieser Text enthält Auszüge aus dem Beitrag „Die Funktion der Farbe – Einführung in die Farbtheorie und Begriffsklärung“, von Axel Buether, FARBE, DETAIL PRAXIS 2014
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