Generative Farbtonkreise und -modelle
Vergleichende Analyse generativer Ordnungen der Farben
Eckhard Bendin
Generative Farbtonkreise und -modelle
„Die Farbe sei ein elementares Naturphänomen für den Sinn des Auges, das sich, wie die übrigen alle, durch Trennung und Gegensatz, durch Mischung und Vereinigung, durch Erhöhung und Neutralisation, durch Mittheilung und Vertheilung und so weiter manifestirt und unter diesen allgemeinen Naturformeln am besten angeschaut und begriffen werden kann.“ J.W. v. Goethe, Zur Farbenlehre. 1810, Einleitung zum ‚Didaktischen Teil‘
Der Kreis als bezeichnende Gestalt
In der Verlaufsform wie auch inneren Struktur des Kreises drücken sich Kontinuität und Wandel, Ruhe und Bewegung, Totalität und Polarität, Übereinstimmung und Kontrast, Element und Struktur, Teil und Ganzes, sowie harmonikale Mannigfaltigkeit und Einheit aus. Es gibt kaum ein besseres Zeichen für das natürliche, aber auch so viele Wissens- und Erfahrungsebenen betreffende Wesen der Farbe. Die Variablen der Farbtöne lassen sich in zyklischer Reihe zu bedeutungsvollen Konstellationen ordnen. Dabei ist es – abgesehen von weitreichenden metaphorischen Aspekten – durch- aus nicht gleichgültig, welche Qualitäten oben, unten oder mittig, rechts oder links zu liegen kommen. Ebenso wirken sich Ungleichgewichte im Hinblick auf die Farb- abstände (Intervalle) oder einer wertgleichen Ausprägung der Farbtöne (Reinheit, Sättigung) störend aus. Wir sprechen aber auch von „innerer Symmetrie“ deshalb, weil sich in einer entsprechenden Axialität am Besten die Zugehörigkeit der Gegenfarben ausdrücken und zugleich auch Ausdruck der wirkenden Polarität werden kann.
Innere Symmetrie und Gliederung des Kreises
Es gibt in der Geschichte der Farbenlehre zahllose Beispiele für Farbtonkreise mit innerer Symmetrie und einfachster kreisgeometrischer Differenzierung, die man, was den Gliederungsansatz angeht, grob in drei Klassen einteilen kann: Farbtonkreise mit 2, 3 oder 5 Ausgangsfarben. Die Anzahl 4 als erste Verdopplung von 2 und 6 als erste Verdopplung von 3 spielen außerdem eine elementare Rolle, weil sie noch Einfachheit und Überschaubarkeit vermitteln. Als Archetypen könnte man ansehen (Klammer- werte = Anzahl der Ausgangsfarben): Goethe 1810 und Heimendahl 1961 (2), Mayer 1758 und Harris 1770 (3), Waller 1686 und Höfler 1883 (4), Munsell 1905 und Frieling 1968 (5). Auf dieser Grundlage werden die aus weiterer Verdopplung entstandenen Strukturen des 6, 8-, 10- und 12-teiligen Farbtonkreises allgemein als hinreichende, die Mannigfaltigkeit repräsentierende Prototypen angesehen.
Das Ergebnis generativer Differenzierung und symmetrischer ‚Knotenbildung’ bei den Farbtönen durch ‚Complikation und Combination‘ soll an einigen Modellen aus der Geschichte der Farbenlehre veranschaulicht werden. Erinnert sei z.B. an die bekannte ‚Spektralfarbenpalette‘ des Malers J. G. Vibert (Gage 1993), die ein Complikations-Bild ausweist mit sechs komplementären Farbtonpaaren und weiterer Tondifferenzierung in symmetrischer Anordnung um den ‚Fixpunkt‘ Gelbgrün (grün markiert). Abb. I.2.03
Der generative Aspekt der Farbtöne kommt beispielhaft in der Farbton-Ordnung von Johann Wolfgang v. Goethe (1810) zum Ausdruck, die ausgehend von der Polarität, dem Urphänomen und der Steigerung der Farberscheinungen an trüben Mitteln – hauptsächlich phänomenologisch be- gründet ist und bereits eine Stufenordnung mit Complikationsmerkmalen aufweist (Abb. I.2.04). Ihm folgen eine ganze Reihe von Ordnungen, die ebenfalls kombinatorischen Ursprungs sind. Schließlich soll auch auf einige neuere Modelle generativer Farbtonordnung hingewiesen werden.
und Steigerungnach Goethes FL (Erweitertes Schema nach Pawlik 1974
Phänomene und Genese bei Goethe
Wie stark Johann Wolfgang v. Goethe bei der Farbe von einem natürlich gegebenen, elementaren Phänomen ausging, welches sich u.a. durch Trennung und Gegensatz manifestiert, belegt die oben zitierte grundlegende Aussage bereits im Vorwort zu seiner Farbenlehre. Seiner Auffassung einer Genese der Farben verleiht er Nachdruck im Abschnitt ‚Wie entschieden die Farbe sei‘ mit der Aussage: „..Entstehen der Farbe und sich entscheiden ist eins.“ (§695) und verweist auf die Polarität als gegensätzlich wirkende, differenzierende Kraft: „…Im Allgemeinen betrachtet entscheidet sie sich nach zwei Seiten. Sie stellt einen Gegensatz dar, den wir eine Polarität nennen und durch ein + und – recht gut bezeichnen können.“ (§696)
Die mögliche Ablesbarkeit der ‚mannigfaltigen Verhältnisse des Werdens‘, d.h. der Genese der Farben in der Kreisgestalt hebt er im §707 hervor: „…Der Farbkreis ist vor unseren Augen entstanden, die mannigfaltigen Verhältnisse des Werdens sind uns deutlich. Zwei reine, ursprüngliche Gegensätze sind das Fundament des Ganzen…“
Bei Kreisen steht die Frage nach dem Symmetriepunkt zugleich auch als Frage nach einer Achse, an der zur ‚Dominante‘ ein Gegenspieler liegt. Goethes Farbton-Schema könnte man in dieser Hinsicht als Musterbeispiel für das Complikationsprinzip im Kreis bezeichnen: Zwischen den polaren Gegensätzen und Ausgangsfarben Gelb und Blau bildet sich als reale Mischung die ‚Dominante‘ Grün, andererseits entsteht aus beidseitiger ‚Steigerung‘ darüber im Zenit des Kreises Purpur als Gegensatz, die senkrechte Symmetrieachse des Ganzen gemeinsam markierend und den Kreis
in zwei Hälften teilend, die Goethe auch Plus- und Minus-Seite nennt und durch die Attribute Wirkung bzw. Beraubung kennzeichnet. Den Farben der Plusseite von Gelb bis Orangerot spricht er eine regsame, lebhafte und strebende Anmutungen zu, wohingegen er den Farben der Minusseite von Blau bis Violett unruhige, weiche und sehnende Empfindungen zuordnet.
Goethe steht mit jener Dominante und Achsenstellung nicht allein. Grün und Purpur bilden ebenfalls schon in vorhergehenden wie auch nachfolgenden Kreisdarstellungen die Symmetrieachse. Anstelle der Kreisgestalt (bzw. in diese integriert) wird oft auch die Dreiecksfigur als kleinster regelhafter Farbtonzyklus dargestellt. Allerdings unterscheiden sich die Kreise und Dreiecke darin, wo die Dominante Grün und ihr Gegenspieler Purpur angeordnet sind. So steht wie bei Goethe das Purpur (bzw. Rot) im Zenit z.B. bei Moses Harris (um1770), Tobias Mayer (1775), J. F. L. Mérimée (1830), George Field (1841), Hermann v. Helmholtz (1855), Wilhelm v. Bezold (1876), Otto Prase (1912) und A. Hölzel/C. van Biema (1930). Grün im Ze- nit des Kreises und Purpur an die Basis weisen dagegen die Tonordnungen von M. Eugène Chevreul (1839), Clark Maxwell (1857), Wilhelm Wundt (1874/75), Ogden Rood (1879), Ewald Hering (1889), Eckart Heimendahl (1961), Frans Gerritsen(1975) und Antal Nemcsics (1987) aus.
Die jeweilige Stellung von Grün und Purpur geht generativ entweder aus mischtechnischen, physikalischen, phänomenalen oder physiologischen Ansätzen hervor oder sie findet ihre Begründung auch in den verschiedenen Ausdruckswerten, die den Farbtönen beigemessen werden. Goethe spricht z.B. im Zusammenhang mit seiner Theorie der Steigerung bei Purpur von der ‚höchsten‘ aller Farberscheinungen, die metaphorisch mit Phantasie und Ideal verbunden ist, während Grün als Ergebnis der Mischung der beiden Urfarben Gelb und Blau als die reale Basis das Ganzen angesehen wird und für Sinnlichkeit (Sinnesbezogenheit) und Wirklichkeit steht.
I.2.07 Runges Schema zur Farbenkugel
Pigmentmischung bei Runge
Wie schon bei Harris (Abb.I.2.13) und May- er (Abb. I.2.06) geht die Mannigfaltigkeit in der Kreisstruktur des Malers Philipp Otto Runge, die er 1810 mit seiner Farbenkugel vorstellte, aus einer dreifachen Bestimmung hervor, den drei ‚Naturkräften‘ und Hauptfarben der Maler Rot, Gelb und Blau, ein elementares Dreieck bildend (Abb. I.2.07) Runge setzt allerdings Blau an dessen Spitze. Aus der Pigmentmischung der drei Komponenten entsteht das Gegendreieck Grün, Orange und Violett, die zu einem Kreis zusammengeführt werden. Aus dieser Tonstruktur erwächst schließlich sein Kugelmodell mit den Polen Schwarz und Weiß. Von Runge kennen wir aber auch eine etwas spätere Darstellung der Farbtonstruktur, in der er das Verhältnis von durchsichtiger zu undurchdichtiger Farbe zueinander wie ‚Ideales‘ und ‚Reales‘ zum Ausdruck bringt und das elementare Drei- eck, an dessen Spitze nun Rot steht, mit den Metaphern Liebe (Rot), Mann (Gelb) und Frau (Blau) besetzt (Abb I.2.08). Auch in der Interpretation der beiden Aufwärtsentwicklungen von Gelb bzw. Blau zu Rot als ‚männliche bzw. weibliche Leidenschaft‘ äußert sich eine Analogie zu Goethes Ordnung und dessen innerer Symmetrie.
Bipartion bei Schopenhauer
Eine generative Farbton-Differenzierung besonderer Art spiegelt sich in der Theorie der ‚qualitativ geteilten Tätigkeit der Retina‘ von Arthur Schopenhauer wider, die er 1816 in seiner Schrift „Über das Sehn und die Farben“ veröffentlichte. Die von Schopenhauer für die Retinatätigkeit angenommene Bipartion der Gegenfarben, deren Summe stets 1 ist, veranschaulicht auch der ‚Äquivalente Farbkreis‘, den Carry van Biema unter Bezug auf Schopenhauers Angaben entworfen hat (Abb. I.2.10). Im Kreis besitzt jedes Farbtonpaar ein spezifisches Verhältnis der Anteile an der physiologischen Gesamtleistung, worin die Vorstellungen einer Äquivalenz der Kräfte, und ihrem spezifischen Gleichgewicht deutlich wird. Wenn man von einer theoretischen Vorwegnahme durch Johann Gottfried Voigt (1796) einmal absieht, könnte man Schopenhauers Partitionierung 0, 1/4, 1/3, 1/2, 1/2, 2/3, 3/4, 1 (Abb.I.2.10) als erste physiologische Farbtonordnung bezeichnen, die quantitativ-kombinatorisch begründete wurde.
Binäre Kombinatorik bei Ziegler
Aber auch weniger bekannte generative Tonstrukturen, in denen quantitative Anteile an den Qualitäten zum Ausdruck kommen, gilt es zu benennen. Am elementarsten ist hier vielleicht der Farbenstern von Jules- Claude Ziegler (1850, nach Gage 1993) mit sechs Trigrammen, denen ein binärer Code zugrundeliegt, charakterisiert durch eine gerade und eine gebogene Linie (Abb. I.2.09).
Diatonik und Chromatik bei Hölzel/Van Biema
Einen ausgesprochen harmonikalen Bezug haben auch die beiden Farbtonstrukturen, die wir vom Maler Adolf Hölzel kennen und die uns dank der Veröffentlichung durch seine Schülerin Carry van Biema überliefert sind (1930). In Analogie zu musikalischen Tonstrukturen enthält der diatonische Farbkreis acht Töne (45°-Teilung), der chromatische dagegen zwölf (30°-Teilung). Aus dem Verhältnis der jeweiligen Intervalle ergeben sich harmonikale Aspekte für die Farbbeziehungen (Abb. I.2.11) Hölzel wählte für beide Kreise Goethes Farbtonschema als Grundlage.
Lichtmischung bei Helmholtz, Maxwell Bezold
In Anlehnung an Thomas Young wies Hermann v. Helmholtz nach, wie jede Farbe als Gemisch von drei grundlegenden Farbempfindungen zusammengesetzt werden kann und legte dieses Modell auch der Farbwahrnehmung als ‚Dreifarbentheorie‘ zugrunde (1855).
James Clerk Maxwell, dem wir insbesondere die mathematische Bestimmung der elektromagnetischen Wellennatur verdanken, bestätigte dies durch Farbmischversuche mit Kreiseln, erhärtete mit seiner ‚Theorie des Farbensehens‘ (1859) die Erkenntnisse von Helmholtz und ordnete die gefundenen Farbkoordinaten in ein Dreieck ein. Die Beziehung der beiden Enden des sichtbaren Spektrums Rot und Violettblau stellt sich als Basis des Dreiecks und Gerade dar. Helmholtz hat u.a. versucht, Maxwells Dreieck und Newtons Farbtonkreis in Übereinstimmung zu bringen, indem er Maxwells Gerade zwischen Rot und Violettblau als Purpurgerade in den Kreiszirkel einführte.
Eine analoge Anordnung finden wir später auch bei Wilhelm v. Bezold. Als Grundlage für praktisch ästhetische Untersuchungen versuchte Bezold, ein wahrnehmungsgerechtes Modell der Farbenmannigfaltigkeit zu entwerfen und bezog sich dabei zunächst auf Chevreul, 1921 aber auch auf Helmholtz und Maxwell, indem er seinen Kreis schließlich aus dem Dreieck konstruiert.(Abb. I.2.13)
I.2.12 Harris
I.2.13 v. Bezold
Diskontinuität der Empfindung bei Rood, Wundt, Ostwald, Nemcsics
Der Physiologe Wilhelm Wundt veröffentlichte 1874/75 Untersuchungen zur Unterschiedsempfindlichkeit der Spektralfarben und veranschaulichte die Ergebnisse in einem Diagramm sowie in einem Farbtonkreis. Da die Unterschiedlichkeitsempfindung an den Enden des Spektrums (Rot und Violett) sowie im mittleren Bereich (Grün) kleiner ist als im Blau und Gelbberich, hat Wundt den Kreis in entsprechende Sektoren geteilt. Ein Diagramm veranschaulicht dies durch einen wellenartigen Verlauf mit Grün in der Mitte. Wundt schlußfolgerte daraus u.a., daß Rot, Grün und Violett für die Farbmischung eine ausgezeichnete Rolle spielen (Abb. I.2.14; s.a. Abb. II.2.05).
Aus Versuchen und Messungen an rotierenden Kreiselscheiben zur optischen Mischung hat der Physiker Nicholas Ogden Rood 1879 ein Farbenrad konstruiert, das die Achsenpositionen der komplementären Farbenpaare veranschaulicht. An ihnen wird eine symmetrisch wechselnde Spreizung und Stauchung der Achsen deutlich, die ähnliche Verhältnisse wie bei Wundt anzeigt. (Abb. I.2.15)
Die Erkenntnis, dass das Auge sich an breiten Lichtmassen von verschiedener Schwingzahl biologisch entwickelt hat, und daß in den Gesetzlichkeiten solcher Massen die Grundlagen für unser Farbensehen zu suchen sind und nicht in den ‘homogene Lichtern’ (d.h. dem Licht einer bestimmten Wellenlänge), veranlaßte Wilhelm Ostwald zu seiner ‚Lehre vom Farbenhalb‘(1919). Ostwald untersuchte für die acht Vollfarben seines Systems die spektrale Zusammensetzung und fand, dass sie – nur jeweils verschoben – annähernd das Spektrum halbieren (Abb. I.2.17). Interessant ist aber auch Ostwalds an der Kreisgestalt vorgenommen Untersuchung der jeweils dominanten Wellenlängen für homogene Lichter, die ja ebenfalls bestimmte Farbempfindungen hervorrufen. An der Verdichtung und Spreizung der Achsen kompensativer Farben wird wie bei Wilhelm Wundt die Auszeichnung der beiden Enden des Spektrums und des in der Mitte liegenden Grün deutlich und verweist auf eine complikatorische Struktur (Abb. I.2.16).
Ergänzend zu den periodisch anmutenden Farbachsen-Strukturen soll der Farbton- kreis des Coloroid-Color-Systems von Antal Nemcsics (1985) vorgestellt werden, der auf psychometrischen Untersuchungen zu Farbharmonien basiert. Nemcsics legte seinem System die seit 1931 inter- national vereinbarten CIE-Koordinaten xyz zugrunde. Auch hier ist ein periodisches Zusammendrängen und Lockern der Farb- abstände ablesbar und zeugt von einem gesetzmäßigen Hintergrund der Genese der Farbempfindung (Abb. I.2.18).
Energetische Stufung bei Heimendahl
Hier soll auch die ‚Polarkomplementäre Tonstufenordnung‘ von Eckart Heimendahl (1961) hervorgehoben werden, die hinsichtlich der Achsenbildung und Dominante den Einsichten Goethes und Schopenhauers folgt, aber mit der ergänzenden ‚Licht-Farben-Funktionsordnung’ eine energetisch gestützte, physiopsychisch orientierte Weiterentwicklung darstellt (Abb. I.2.05 und I.2.19).
Pentagonale Struktur bei Munsell und Frieling
Ebenso soll auf den physiopsychisch begründete ‚Kompensationsfarbenkreis‘ Heinrich Frielings (1968) hingewiesen werden, den er seinem ‚Color-Aktiv-Farbenfünfeck‘ zugrundelegte (Abb. I.2.20). In seiner pentagonalen Ausrichtung verweist Frielings Modell, an dessen Spitze Gelb als hellste Farbempfindung steht, auf die Tonordnung von Albert Henry Munsell (Abb. I.2.21a).
Munsell hatte bereits 1905 eine Tonstruktur entworfen, die empfindungsmäßig gleichabständig sein sollte und dazu auch gemäß der Erfahrung und im Interesse der inneren Symmetrie den Bereich zwischen Rot und Blau ausdehnte. Neben den vier Grundempfindungen (Gelb, Blau, Rot und Grün) erhob er Purpur zur fünften, gleichberechtigten Ausgangsfarbe seines Systems. Dann gabelte Munsell empfindungsgemäß zwischen den fünf Ausgangsfarben weitere Farborte ein, so daß durchaus komplikatorisch eine Gliederung in 40 Töne entstand (Abb. I.2.21b).
I.2.21b Munsell Book of Color
Complikation der Grundempfindungen bei Hering und NCS
Complikationen zwischen empfindungsmäßig ausgezeichneten Farborten bietet auch der Farbtonkreis von Ewald Hering auf der Grundlage seiner Opponententheorie (Abb. I.2.22). Von den vier Grundempfindungen Gelb, Blau, Rot und Grün ausgehend , gabelt auch Hering seine Zwischenstufen ein, die sich aus den gegenläufig verschiedenen Mischanteilen der Ausgangsfarben ergeben (Hering 1889).
Der schwedische Physiker Tryggve Johansson entwickelte in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage dieses Prinzips ein System, das durch Sven Hesselgren (1952), Anders Hård und Lars Sivik im Natural Colur System /NCS verfeinert wurde (1979). Das heute in Europa weit verbreitete Farbsystem gliedert – ausgehend von den Heringschen Grundempfindungen – den Farbtonkreis in je 10 Zwischenstufen und umfasst 40 Farbtöne. Wie schon bei Hering sucht man hier die Gegenfarben Purpur und Grün als Achse bzw. Dominante vergeblich (Abb. I.2.23)
Kombinatorische Logik bei Benson, Prase, Hickethier, Müller und Küppers
Die Entwicklung der räumlichen Vorstellung von Farbwürfeln, die insbesondere für die Repräsentation des Mischverhältnisse des Mehrfarbendrucks wichtig wurden, veranschaulicht auf andere Weise generative Zusammenhänge. Sie werden durch die sechs Ausgangsfarben Cyan, Magenta und Gelb, Orangerot, Violettblau und Grün sowie Schwarz und Weiß bestimmt, die die Ecken des Würfels besetzen (Abb.I.2.24).
Bereits 1868 entwarf der englische Architekt William Benson einen Farbenwürfel, sich auf Arbeiten der Physiker John Herschel und James Clerk Maxwell stützend. Dem Würfel legte er die drei ‚einfachen‘ Farbempfindungen Rot, Grün und Blau zugrunde und definierte alle Orte des auf der Spitze stehenden Würfels in Beziehung dazu. Der Würfel wird durch drei primäre, sechs sekundäre und vier tertiäre Achsen strukturiert, auf denen Benson sich eine gleichmäßig abgestufte Farbenreihe vorstellte.
Angeregt durch Ideen des Physikers Johann Heinrich Lambert entwarf 1917 Otto Prase einen ‚Tausendteiligen Würfel‘, für dessen 1000 Farborte er auf der Grundlage des Dezimalsystems eine Codierung zwischen 000 und 999 entwarf, und der bereits für den Mehrfarbendruck bestimmt war. Er führte ihn 1945 in nur wenigen Exemplaren schematisch aus.
Zu Beginn der 50er Jahre veröffentlichten dann fast gleichzeitig und unabhängig von- einander der Schweizer Volkswirt Aemilius Müller (1951) sowie der aus Sachsen stammende Drucktechniker Alfred Hickethier (1952) differenzierte Farbenwürfel auf der Basis jener kombinatorischen Logik. Die Würfelidee wurde schließlich auch von Harald Küppers für den Vierfarbendruck aufgegriffen und verfeinert (Küppers 1972).
Neuere Modelle
Hier sollen auch jüngere Modellbildungen mit generativem Hintergrund vorgestellt werden, die hinsichtlich ihrer kombinatorischen Ausprägung gewisse Übereinstimmungen zeigen: Gerritsen (1975), Maier (1980), Bendin (1991) und Krumeich/ Knülle (1992). Neben der auch hier anzutreffenden binären Kombinatorik übernehmen dabei Phänomene der Helligkeitsverhältnisse und der Musterwahrnehmung eine Schlüsselrolle.
Farbwahrnehmungsraum von Frans Gerritsen (1975/1984)
Gerritsen hat hat das Prinzip der selektiven trichromatischen Rezeptortätigkeit nach Young/Helmholtz (RGB) mit dem antagonistischen Prinzip der Assimilation und Dissimilation der Sehsubstanz nach Hering (R-G / Y-B /S-W) in der Weise zu kombinieren versucht, indem er die sechs Hauptfarben sowie Schwarz und Weiß schematisch in Plus- und Minus-Codes ‚übersetzte‘ und hierzu ein Dreiecksschema entwarf, in dessen Zentrum Schwarz und Weiß mit der Codierung — bzw. +++ liegen, wobei Grün oben angeordnet wurde (Abb. I.2.26). Für die fortschreitende Differenzierung zum 18-teiligen Farbtonkreis wird die Kombinatorik der drei ‚Augenprimärfarben‘ Orangerot, Grün und Violettblau noch einmal schematisch verwendet. (Abb. I.2.25) Die senkrechte Achse des Kreismodells bilden Grün und Magenta.
HPM – Color – Farbtafel
von Hans Peter Maier (1991/1992)
Hans Peter Maier orientiert sein mehrdimensionales Farbenmodell insbesondere an der von Martin Schönberger entdeckten Analogie des genetischen Codes der Erbsubstanz mit der uralten Kombinatorik von Bi- Tri- und Hexagrammen des ‚I Ging‘, dem chinesischen Buch der Wandlungen (Schönberger 1977). Aus den 4 Bausteinen der Aminosäuren entstehen auf der Grundlage des binären Codes insg. 64 Kombinationen, die Maier auf dem Außen- kreis seines ‚Ewigen Rades‘ in Farbtöne übersetzt hat (mehr dazu im 7. Kapitel).
Jener Grundlage folgend benutzt er für seinen HPM-Color-Test eine Farbtafel, die von einem Dreiecks-Schema der sechs Hauptfarben ausgeht und der Goetheschen Tonordnung folgt (Abb. I.2.27). Maier bezieht dabei die achromatischen Empfindungen Schwarz, Weiß und Grau radial in die Binnenstruktur seines Dreiecks mit ein.
Analogiemodell der Farbe/ AMC
von Eckhard Bendin (1991/1994)
Auf anderem Wege und unabhängig von Maier ist die in Abb. I.2.28 dargestellte Farbton-Generation des ‚Analogie-Modells‘ AMC) entstanden und doch sind die Ergebnisse mit denen von Maier so gut wie identisch. Das gleiche Dreiecksschema erwächst hier jedoch – ebenfalls Goethe folgend – neben einer Kombinatorik der Helligkeitsverhältnisse an Kantenspektren auch aus der hypothetischen Betrachtung möglicher Schwingungsgestalten der ins Auge eintretenden elektromagnetischen- Strahlung (differenzierte Reizkonfigurationen) und nimmt dadurch in gewisser Weise auch Goethes Interesse an den ‚entoptischen‘ Farben auf. Die bekannten Interferenz- und Polarisationserscheinungen sowie die gegenfarbige Bipartion und Axialität aller Farberscheinung stützen die Annahmen. Das Vektorschema (Abb. I.2.29 oben) geht von interferenzanalogen Verstärkungen und Schwächungen des Lichtes aus. Die daraus folgende gegenläufige Helligkeitsdifferenzierung und -bewegung auf hellem bzw. dunklem Grund generiert 12 spezifische ‚Farbgestalten‘, denen eine gemeinsame ‚generative Grammatik‘ zugrundeliegt liegt. (Abb I.2.29 unten). In nachfolgenden Kapiteln wird das Modell detailliert vorgestellt.
Das Dreiecksmodell ist überraschend kompatibel zur Kombinatorik Gerritsens; auch weist der Helligkeitsbezug eine Nähe zu Gerritsen auf. Während sich jedoch Gerritsen in seinem räumlichen Modell an der Relativhhelligkeit orientiert, liegt dem AMC die Helligkeitskombinatorik zwischen dem jeweiligen Grund und verschiedenen Aufhellungs- und Verdunklungsschritten zugrunde. Während bei Gerritsen Grün die Spitze des Dreiecks einnimmt, steht beim AMC (Magenta) im Goetheschen Sinne Purpur im Zenit.
darunter die ‚Generative Grammatik‘ (Bendin 1991)
StandingWaveAnalysis/SWA vonJörg H. Krumeich/ Alfred Knülle (1992)
Ein anderer Ansatz führte Krumeich und Knülle in ihrer ‚Theorie der stehenden Welle SWA‘ (Standing Wave Analysis) zu ähnlichen Gestaltbildungen. Bei jener besonderen Form der Interferenz, bei der infolge Reflexion zwei Wellen in umgekehrter Richtung sich überlagern, entstehen charakteristische Muster der Auslöschung und Verstärkung. Nach der Theorie erfolgt die Reflexion der in die Retina eintretenden Lichtwellen an der Bruchschen Membran und erzeugt an den Außengliedern der Rezeptoren (Disci) durch Interferenz stehen- de Wellen, d.h. Sequenzen regelmäßiger Muster (SWA-Colorgramme), die durch eine photosensitive Substanz in Aktionspotentiale umsetzt werden. Farbinformationen werden dann durch die Abstandsmuster der Potentiale erreicht. (Abb.I.2.30) Auf diese Theorie wird unter morphogenetischem Aspekt sowie im zweiten Teil des Buches unter wahrnehmungspsychologischem Aspekt noch einmal näher eingegangen.
Sowohl im Ansatz als auch im Ergebnis treten Parallelen zum Interferenz-Bezug der ‚Farbgestalten‘ des AMC auf. Beiden Theorien unterliegt die hohe Wahrscheinlichkeit einer wiederholbaren Erzeugung von Gestalten bzw. Colorgrammen, die wie Fingerabdrücke typisch für jede vorstellbare Farbe innerhalb des sichtbaren Spektrums im Zusammenhang mit gleichzeitig passenden morphologischen, physikalischen und generativen Dimensionen erscheint. In den hier vorgestellten generativen Farbtonordnungen aus der zweihundertjährigen Geschichte der Farbenlehre seit Goethe werden Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen deutlich, die hauptsächlich nicht in der Auffassung des Graduellen, sondern im Artifiziellen der Farbgenese und somit hauptsächlich im Bereich der einstigen Annahmen Goethes liegen. Diese auch mit neuen Überlegungen zu verknüpfen, ist eines der Anliegen nachfolgender Kapitel.
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Verantwortung liegt bei dem Urheber des Beitrags Eckard Bendin